Freitag,
31.05.2019 - 09:00
6 min
Sex in der Literatur - peinlich selbst bei Nobelpreisträgern

Von Monika Nellessen
Redaktionsleiterin Leben/Wissen

Rainer Moritz leitet das LiteraturhausHamburg. (Foto: Gunter Glücklich)
MAINZ - Herr Professor Moritz, früher haben Teenager heimlich im Bücherschrank ihrer Eltern nach Romanen mit eindeutigen Stellen gesucht. Welches Werk hat Sie aufgeklärt?
Ich bin in die Stadtbücherei gegangen, da habe ich mich ganz hinten hingesetzt. Weil mir ein Schulfreund zugeraunt hatte, in „Narziss und Goldmund“ von Hermann Hesse gebe es so eine bestimmte Stelle im Heu, habe ich die mir angeschaut. Als ich sie jetzt nochmal las, war ich erstaunt, wie harmlos sie ist. Aber das hat man in den 60er und 70er-Jahren völlig anders empfunden.
„Glücklich empfand er das lautlose, still wachsende Feuer, das in ihnen beiden lebendig war und das ihre kleine Lagerstätte zur atmenden und glühenden Mitte der ganzen schweigenden Nacht machte.“ [Hermann Hesse]
Seit wann haben deutsche Romanfiguren Sex?
Es gab natürlich immer Bücher wie Felix Saltens 1906 veröffentlichte Dirnengeschichte „Josefine Mutzenbacher“ die unter der Ladentheke gehandelt wurden. Aber im klassischen Roman blieb Sex bis Mitte des 20. Jahrhunderts tabu. Als in Theodor Fontanes „Schach von Wuthenow“ die junge Victoire schwanger wird, müssen Sie viele Seiten zurückblättern, um herauszufinden, wann es zum Äußersten kam. Sie werden feststellen, es muss zwischen zwei Absätzen passiert sein.
In den 1920er-Jahren gab es dann erste Sexszenen, über die der gepeinigte Rezensent Kurt Tucholsky urteilte, es gebe „gute Gründe“, die „Koitusschilderungen von tobsüchtig gewordenen Studienräten der Liebe“ zu verbieten. Schließen Sie sich an?
Nein, ich will kein Zurück. Noch in den 1960er-Jahren standen ja Autoren wie Günter Grass, Heinrich Böll oder Arno Schmidt quasi auf dem Index. Man hat versucht, ihre Werke zu zensieren. Das hat sich erst zu Zeiten der Studentenrevolte, der sozialliberalen Koalition und von Oswalt Kolle geändert. Aber es gibt noch keine literarische Sprache für Sex. Das erhöht das Risiko für Gegenwartsautoren. Und wer es nicht kann, soll es lassen.
In Ihrem Buch „Matratzendesaster“ liefern Sie Beispiele dafür. Was hat Sie dazu verführt, missglückte Höhepunkte zu sammeln?
Ich arbeite ja auch als Literaturkritiker. Irgendwann fiel mir auf, dass selbst tolle Autoren an diesen Stellen schwächeln. Das war der Auslöser, eine Systematik der Peinlichkeiten zu entwickeln.
Was sind die häufigsten Fehler?
Es fängt schon mit dem Ausziehen ab. Bis ihr Kleid über dem Stuhl hängt und seine Socken auf dem Fußboden liegen, dauert es, und das ist nicht spannend. Um das zu überbrücken, gibt es in vielen Büchern den Satz: „Sie rissen sich die Kleider vom Leib.“ Wer das in der Praxis ausprobiert, wird sich nicht nur bei einer Dame, die Chanel trägt, großen Ärger einhandeln.
„Sie hatte sein Hemd aufgerissen, nicht weil sie seine Brust fühlen, sondern weil sie sein Herz finden wollte.“
Bernhard Schlink, Sommerlügen
Ab wann schämen Sie sich fremd?
Das Grundübel entsteht, wenn Autoren besonders originell sein wollen. Sie fühlen sich gezwungen, über Sex zu schreiben. Also lassen sie sich etwas einfallen, was sie für literarisch bedeutsam halten. So kommt es zu seltsamen Ausflügen in die Botanik: Die Orchidee wird zum Synonym für das weibliche Geschlecht, Melonen oder Kürbisse zu weiblichen Brüsten. Genauso schlimm finde ich Tiervergleiche, wenn Autoren zu Aalen oder anderem Getier wechseln, um das männliche Geschlechtsteil zu beschreiben. Mein Lieblingsbeispiel ist von US-Autor James Salter, der den Orgasmus eines Mannes mit den Worten beschreibt: „Er kam wie ein trinkendes Pferd.“
Aber das immer Gleiche soll es auch nicht sein: Sie zitieren Marcel Reich-Ranicki mit seinem Ausruf über Maxim Biller: „Du fickst, ich ficke, wir ficken, wenn er doch nur einmal vögeln schreiben würde!“
Wer nicht in die Originalitätsfalle tappen will, greift auf dieselben Verben zurück. Oder er variiert sie so, dass es erst recht komisch wird. Männliche Autoren gehen dazu gerne in den Baumarkt. Wenn es zur Sache geht, wird gebohrt, genagelt und gehämmert.
Schreiben Männer peinlicher über Sex als Frauen?
Leider entgleiten und entgleisen sie häufiger als Frauen.
„Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb ...“
Robert Menasse, Don Juan de la Mancha
In England gibt es den Bad Sex in Fiction Award. Wer wären Ihre deutschen Favoriten?
Martin Walser hat in seinem Spätwerk sehr daran gearbeitet, in diese Kategorie zu gelangen. Auch der Literaturnobelpreisträger Günter Grass brachte in seinen letzten Jahren erotische Gedichte zu Papier, die von größter Peinlichkeit sind. Man sollte älteren Herren über 70 explizit davon abraten, über Sex zu schreiben.
„Endlich wieder einmal. Ihm war nach Fortpflanzung. Anfallartig.“
Günter Grass, Der Augenblick der Liebe
Machen wir einen Test. Von wem ist das und was halten Sie davon? Erstens: „Sie gehörte nicht zu den Frauen, die irgendwelche Wörter keuchten, dafür zitierte sie gerne Rilke im Bett.“
Ein echter Bodo Kirchhoff. Das gehört zur Kategorie „Intellektuelle Nummer“.
Zweitens: „Der Student presst die Frau an sich. Das Zischen, das aus seinem Ventil tritt, kann er selbst mit einem kleinen Griff an seinen Kochtopf, der übervoll ist, beheben.“
Das ist aus „Lust“ von Elfriede Jelinek. Sie will neue Bilder verwenden, auch um sich von literarischer Anmache abzugrenzen, aber es funktioniert nicht. Um das zu erkennen, muss man nicht mal Hobbykoch sein.
Drittens: „Oh, wann kommst du?“
Ein Lied von Daliah Lavi. Die Arme hat sich in den frühen Siebzigern nichts Böses dabei gedacht. Aber da ist „Oh“ drin, und „kommen“, beides völlig abgedroschen, da sind zwei wesentliche Übel versammelt. So wie ich „Herz“ und „Schmerz“ im Gedicht nicht mehr reimen kann, kann ich nicht schreiben, bloß um es hinter mich zu bringen: „Er kam sofort.“ Auch „Oh Gott!“ würde ich meiden, wenn ich über einen Höhepunkt schreibe.
Konservative beklagen, dass wir in einer schamlosen Gesellschaft lebten. Warum kann man dann immer noch mit sexueller Provokation Kasse machen?
Wir sollten die Aufgeklärtheit unserer Gesellschaft nicht überschätzen. Sonst wäre es ja Charlotte Roche nicht gelungen, mit ihren „Feuchtgebieten“ einen Skandal auszulösen. Noch mehr gewundert hat mich der Erfolg von „Fifty Shades of Grey“, ein außerordentlich schlecht geschriebenes Buch. Verlässlich kann man in Deutschland mit Sex und mit Hitler, am besten kombiniert, Provokationserfolge erzielen.
Über das, was Ihnen gefällt, schweigen Sie im Buch ....
Wie Karin Duve in ihrem „Regenroman“ über Sex schreibt, lese ich gerne. Wer das Thema komisch oder ironisch angeht, ist auf der sicheren Seite. Auch Wilhelm Genazino ist ein Meister darin. Da kracht der Stuhl zusammen, reißt das Laken oder zerrt sich einer den Rücken.
Wie benoten Sie sich selbst?
Ich habe vier Romane veröffentlicht, es gibt nur eine explizite Sex-Stelle darin, ich gebe mir eine Drei Plus. Es war nicht die stärkste Stelle im Buch, aber zumindest habe ich versucht, nicht in alle Fallen zu tappen.
„Sie sprachen nichts, als sie sich gegenseitig auszogen, und sie sahen sich dabei an, die Augen auf die Augen des anderen gerichtet, ein Verschwörerlächeln um die Mundwinkel.“
Rainer Moritz, Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe