Wenn Tänzer sich schlagen und dem Publikum auf den Leib rücken: Das Tanzfestival Rhein-Main zeigt auch in Wiesbaden allerlei Grenzüberschreitungen und begeistert das Publikum.
Von Volker Milch
Redakteur Kultur/Politik/Wirtschaft Wiesbaden
Danza Contemporánea de Cuba: Szene aus der Choreografie „Coil“, die im Kleinen Haus zu sehen war.
(Foto: Adolfo Izquierdo Mesa)
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WIESBADEN - Das Kleine Haus des Staatstheaters mag bescheiden dimensioniert sein, hat als Ort des Tanzes aber durchaus große Tradition. Der junge Komponist Hans Werner Henze hatte den Neubau 1950 mit einer Uraufführung eingeweiht und wurde zum „Künstlerischern Leiter“ eines Balletts, das hier auch in Bühnenbildern von Jean-Pierre Ponnelle auftrat. Henze berichtet in seiner Autobiografie sogar, es sei ihm damals gelungen, die Tanz-Legende Serge Lifar zu einem Arbeitsbesuch im Theater zu bewegen.
Am Wochenende wurde das Kleine Haus nun zu einer der Spielstätten des Tanzfestivals Rhein-Main, das in Darmstadt, Frankfurt, Offenbach und eben auch in Wiesbaden Hin- und Mitreißendes in erstaunlicher Vielfalt und Qualität zu bieten hat. Letzteres bestätigt das Publikum nach dem Gastspiel der kubanischen Kompanie „Danza Contemporánea de Cuba“ mit einer Begeisterung, die die Intensität des auf der Bühne Gebotenen spiegelt: Der Saal tobt.
Erfreulicherweise gelingt die Umsetzung lateinamerikanischer Rhythmen dabei abschließend in „Mambo 3XXI“ von George Céspedes wesentlich origineller als der Anfang der Selbstbeschreibung der Kompanie im Programmheft: „Sie haben den kubanischen Rhythmus im Blut...“. In „Mambo“ fesselt die Spannweite zwischen kalter, abgezirkelter, maschineller Präzision des Tänzer-Kollektivs und einer bunten Vitalität, in der sich solistisch wie im Paartanz die individuellen Stärken vorzüglicher Tänzerinnen und Tänzer entfalten dürfen.
Präzision und Leidenschaft
Die Truppe, die 1959 gegründet wurde und sich als modernes Gegenstück zum kubanischen Nationalballett versteht, beginnt den Abend mit der Choreografie „Coil“ von Julio César Iglesias, in der Zweisamkeit als Handgreiflichkeit in Form von Ohrfeigen und anderen Übergriffen vorgeführt wird. Solchen Gewaltakten, die von einer Art Aggressions-Konsens getragen zu sein scheinen (Du schlägst mich, ich schlage dich), steht ein schützendes Kollektiv gegenüber, das sich im Hintergrund einigelt und mit den Armen gen Himmel hüpft, was ein wenig an Hofesh Shechter erinnert. Dass die Choreografie, die im Paartanz starke Bilder des Aneinander, Aufeinander, Miteinander bietet, zwischenzeitlich in der Überfülle des Gewollten und Gezeigten durchhängt, beschädigt kaum die Gesamtwirkung. Während des Applauses dann streichelt man sich nach dem Schlagabtausch Trost zu: ein rührendes Bild der Gemeinsamkeit.
Aggressive Grenzüberschreitungen, die gut zu einem Festival passen, das sich im Motto „moving beyond“ dem „Über-Etwas-Hinausgehen“ verschreibt, finden sich in anderer Form in Tim Behrens Performance „My Body is Your Body“, die an den Vortagen in der Wartburg gezeigt wurde. Das Akrobatenduo Leon Börgens und Leonardo García schafft hier gemeinsam mit der Tänzerin Mijin Kim ein Spannungsfeld, in dem die Besucher in ihrer vermeintlichen Komfortzone verunsichert werden. Die Performer, die zwischen zwei Zuschauer-Tribünen kein akrobatisches Risiko scheuen, in beängstigenden Aktionen unterwegs sind oder Körper-Skulpturen bauen, rücken dem Publikum buchstäblich auf den Leib. Das ist so suggestiv und originell wie – in ganz anderer Weise – die von Flora Détraz konzipierte Performance „Muyte Maker“, die in Darmstadt vier Frauen in einem surrealen Gesamtkunstwerk am Tisch zusammenführt: Mit tanzender Mimik, Zungenakrobatik, mehrstimmigen Gesangsszenen und einer Beinarbeit, die ihr skurriles Eigenleben führt. Ein wunderbarer Wahnsinn mit Methode.