Möglicherweise haben die frühen Erfahrungen der jungen Marion Grein ihre Berufswahl beeinflusst: Die Linguistin der Uni Mainz interessiert sich für Missverständnisse, und neben der Leitung des Studiengangs Deutsch als Fremdsprache klärt sie gerne in Seminaren und Workshops über kulturelle Missverständnisse auf mit dem Ziel, die gravierendsten davon eventuell zu verhindern. So soll ihretwegen kein syrischer Schwiegersohn einer deutschen Schwiegermutter mehr mit knurrendem Magen vom Tisch aufstehen, während keine solche Schwiegermutter mehr denken soll, dem Gast habe das Essen nicht geschmeckt: Schließlich ist es in der syrischen Kultur üblich, stets ein paarmal abzulehnen, während die Deutsche den Gast nach dem ersten „Nein, danke“ in Ruhe lässt.
Eigentlich ist es ja ganz einfach: „Immer wenn Menschen miteinander sprechen, ist ihre Sprache durch soziale und individuelle Prägung geprägt“, sagt Grein. Sowohl die persönlichen Erlebnisse eines Einzelnen als auch die kulturelle Prägung spielen in diesen Hintergrund hinein. Man sehe das gut anhand von Assoziationen, erklärt Grein, etwa zum Begriff „Schnecke“: Während Deutsche damit „schleimig, lahm“ assoziieren, denken Franzosen an Knoblauchbutter, „und Afrikaner züchten sie“. Linguisten nennen das „dialogisches Handlungsspiel“ – und das verursacht eine andere Wahrnehmung ein und desselben Satzes. „Es macht keinen Sinn, nur eine Äußerung zu betrachten“, erklärt Grein, „man muss stets Sprecher und Hörer im Blick haben. Und da nie zwei Menschen die gleichen Prägungen, Erfahrungen und sprachlichen Fertigkeiten haben, ist die Gefahr für Missverständnisse groß.“
Selbst wenn zwei Menschen über die gleiche Sache reden, ist alles noch lange nicht einfach. Lange habe es in der formalen Linguistik die Ansicht gegeben, dass man eine Sache nur auf eine Art sagen kann. „Das stimmt aber nicht“, sagt sie. Allein das Beispiel „Kannst du mir bitte mal das Salz geben?“ zeige das: So würden Deutsche formulieren. „Polen würden das bereits als Zweifel an ihren Fähigkeiten begreifen“, erklärt Grein: „Gib mir das Salz!“ ist dort die passende Form – und in polnischen Ohren klingt das kein bisschen unhöflich, während andere Kulturen vorsichtiger anfragen würden, etwa „Würde es dir große Umstände machen, mir das Salz zu reichen?“.
Je weiter zwei Personen in ihren individuellen und kulturellen Hintergründen voneinander entfernt sind, umso größer ist die Gefahr eines Missverständnisses.
Doch unterschiedliche Kulturen spielen auch zwischen Landsleuten eine Rolle: Das erfahren Wissenschaftler häufig dann, wenn sie ihr Tun der Öffentlichkeit kommunizieren wollen. Auch hier seien Missverständnisse programmiert, sagt Joachim Kimmerle vom Tübinger LeibnizInstitut für Wissensmedien. „Wie gut verstehen Laien die Fragilität wissenschaftlicher Inhalte?“, fragt er. Fragilität bedeutet Zerbrechlichkeit, in diesem Fall also, dass wissenschaftliche Erkenntnis kein statisches Wissen ist, sondern dass sie sich verändert und weiterentwickelt. Laien verstehen das häufig nicht. In vielen Kreisen geht man davon aus, dass wissenschaftliche Erkenntnis gleich Wahrheit ist: womöglich eines der größten Missverständnisse. „Es gehört zum Wissenschaftsprozess, dass Dinge mal gelten und irgendwann nicht mehr“, sagt Kimmerle. „Wissen ist immer nur provisorisch, Forschungsergebnisse können sich widersprechen.“ Kimmerle und seine Kollegen wollen wissen, wie solche Missverständnisse vermieden werden können. „Kann man Inhalte so transportieren, dass es den Menschen leichter fällt, die Fragilität wahrzunehmen?“, fragt er, da das die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft stärken würde.
Auch zwischen Laien und Wissenschaftlern hakt`s
In einer Studie untersuchten die Forscher deswegen, wie Leser Texte im Internet wahrnehmen, wenn Kommentare darunter oder auch der Text selbst auf mögliche Schwächen der Studie hinweisen – wie etwa eine kleine Zahl an Probanden, eine fehlende Kontrollgruppe und Ähnliches.
Dabei beobachteten die Forscher ein Missverständnis: Gerade dann, wenn ein Artikel besonders deutlich darauf hinwies, dass die Erkenntnisse nicht gleich die Wahrheit sind, fanden die Leser auf einmal auch diesen Text selbst nicht mehr glaubwürdig. „Der Text ist doch nicht automatisch unglaubwürdig, wenn er über mögliche Einschränkungen berichtet“, sagt Kimmerle.
Diese Tatsache mag manchen Autoren daran hindern, kritisch über Studien zu berichten – doch Kimmerle appelliert an die Vernunft: Der Sache dient es jedenfalls, wenn sie es dennoch tun. Missverständnisse zwischen Wissenschaft und Laien könnten dann weniger werden.
Auch Experten erleben Überraschungen
Doch trotz all ihres Wissens über die Hintergründe von Missverständnissen sind auch die Forscher selbst nicht vor Überraschungen sicher. Vor einiger Zeit wandte sich ein ruandischer Kollege an Marion Grein, nachdem er drei Wochen an ihrem Institut mitgearbeitet hatte, und sagte: „Jetzt muss es mal raus, Frau Grein, Sie haben den Gang einer trächtigen Kuh.“ Unglaublich! Jede andere wäre empört gewesen, womöglich hätte es den schönsten handfesten interkulturellen Konflikt gegeben. Grein hingegen zuckte lediglich kurz zusammen, lächelte dann und recherchierte heimlich. Ihr Verdacht bestätigte sich: Es war ein Kompliment.
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